Es ist ein klitzekleiner Moment, wenn der Groschen fällt. Wenn man bemerkt, jahrelang etwas falsch verstanden zu haben. An einen solchen Moment erinnere ich mich genau – obwohl ich noch ein Kindergartenkind war. Es ging um „den Siemens“. Den Mann, über den meine Eltern so oft sprachen. Wenn es um das Thema Vereinbarkeit ging. Beispielsweise fragte meine Mutter: „Erlaubt das der Siemens, dass du früher gehst?“ Mein Vater antwortete: „Klar, für den Siemens ist das ok.“ Wenn es um die Urlaubsplanung oder neue Kleidung ging, fragte meine Mutter: „Gibt der Siemens etwas dazu?“ Meine Mutter meinte wahrscheinlich das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, vielleicht auch eine Prämie. Auf jeden Fall gab „der Siemens“ in meiner Erinnerung oft Geld dazu, auch größere Summen, um eine Sondertilgung zu zahlen. Dann waren meine Eltern sehr glücklich, wir feierten. Der Siemens war verständnisvoll, wenn wir Kinder und meine Mutter gleichzeitig krank waren. Mein Vater konnte seinen Arbeitstag verkürzen oder zu Hause bleiben. Der Siemens war auch gerecht: Es gab Sprachkurse und Weiterbildungen für alle. Wer vorankommen wollte, ist vorangekommen im Job. Kochen konnte „der Siemens“ übrigens auch gut. Wenn mein Vater versehentlich sagte, „Beim Siemens schmecken Rinderrouladen so gut wie daheim.“, war meine Mutter ein wenig eifersüchtig. Ja, der Siemens war so etwas wie ein Superheld, ein guter, verlässlicher Freund. Streit gab es wohl auch nie, zumindest hörte ich nichts Negatives über ihn. Nur einmal war ich richtig sauer auf „den Siemens“: Als ich kein Barbiehaus bekam und bat, den Siemens zu fragen zu dürfen, ob er das Geld nicht geben könnte. So etwas bezahle der Siemens nicht, hieß es. Ich ärgerte mich und wollte ihn persönlich sprechen. Das Gelächter meiner Eltern höre ich heute noch. Und meine Verblüffung war groß: Der Siemens war also Papas Arbeit. Was jetzt, Freund oder Firma oder beides? Egal. Mein Vater blieb ihm treu, dem Siemens und ging dort in Rente.
Warum erzähle ich das? In der Hotellerie gibt es auch einige Unternehmen, die oben beschriebene Werte hochhalten und ihr Engagement den Herausforderungen der Zeit permanent anpassen. Sie teilen in Social-Media-Kanälen wie Instagram, TikTok oder YouTube nahbare Insights fürs Recruiting, gleichzeitig schaffen sie es, im Betrieb menschliche Zeichen zu setzen. Sie entwickeln Mitarbeitende und stärken sie. Sie setzen Zeichen, was Integration und Inklusion angeht. Sie helfen sogar bei Schicksalsschlägen. Solche Leuchtturmbetriebe investieren viel in ihre Belegschaft über die sowieso schon hohen Personalkosten hinaus. Sie bekommen aber auch viel dafür: Verbundenheit.
Keine harte Währung? Ich denke doch. Die Verbundenheit, die Mitarbeitende aktuell gegenüber dem Arbeitgeber spüren, ist gering – branchenübergreifend. Das zeigt in der aktuellen Gallup-Studie der sogenannte „Engagement Index“. Laut der Untersuchung fühlen sich lediglich 15 % aller Mitarbeitenden an ihr Unternehmen gebunden, genauso viele Befragte haben innerlich bereits gekündigt. 70 Prozent der Arbeitnehmer erledigen zudem nur noch Dienst nach Vorschrift. Außerdem: Der Krankenstand ist in Deutschland höher als je zuvor, mentale Gesundheit bzw. chronische Erschöpfung ein Riesenthema. Schade zudem: Ein Student für Tourismusmanagement an der Jade Hochschule Wilhelmshaven stellte in einer Umfrage fest, dass jeder zweite Praktikant wegen schlechter Erfahrungen die Hotellerie nicht mehr für die Berufswahl in Betracht zieht.
Keine Frage, die Herausforderungen sind heutzutage komplex. Doch was würde, so frage ich mich, in Zeiten einer Polykrise der Superheldarbeitgeber meiner Kindheit tun? Wie lassen sich Gefühle von Sicherheit und Verbundenheit, die meine Eltern spürten und an mich weitergaben, in die heutige Zeit übertragen? Maßnahmen rund um das „S“ der ESG-Auflagen sind richtige Schritte. Jeder Arbeitgeber sollte das „S“ sehr ernst nehmen, Daten beobachten und sich zudem eigene Ziele setzen: Das kann eine interne Frauenquote für Führungspositionen sein oder ein Limit an Überstunden, das nie überschritten werden darf. Flexible Arbeitszeiten und ein passgenaues betriebliches Gesundheitsmanagement zahlen auf die körperliche und mentale Gesundheit ein. Was viele Menschen sich jedoch wünschen, ohne dass es in Diagrammen darstellbar ist: Das Gefühl von Zugehörigkeit. Meine Eltern und ich haben gespürt, dass „der Siemens“ sich kümmert. Kümmern hieß Sicherheit, auch erste Schritte einer familiären Vereinbarkeit, wie wir sie heute diskutieren, waren möglich. Traurige Dinge wie Todestage konnten angesprochen werden.
Für mich lautet daher die zentrale Frage: Kümmert es den Arbeitgeber, die Unternehmensführung oder die Vorgesetzten wirklich, wie sich Mitarbeitende fühlen? Fühlen sie sich gesehen, aufgehoben, geschützt in ihrer Vielfalt, angenommen in ihren Bedürfnissen, mit ihren Problemen, ihrer Trauer oder ihren Zweifeln? Dafür braucht es Raum, Zeit, Aufmerksamkeit. Regelmäßige Gespräche und eine klare Haltung sind nötig, wenn es um polarisierende Themen wie Rassismus, Diskriminierung, Mobbing oder Streitigkeiten untereinander geht. So hören Vorgesetzte heraus, was KPIs nicht erfassen. Damit können Hüter der Unternehmenskultur ihre Stimme erheben gegen Ungerechtigkeiten, die nicht offensichtlich sind. Und Menschen sprechen öfter über Machtmissbrauch oder Übergriffe.
„Seid Menschen.“ – ein Zitat, das mehr Gewicht hat als jemals zuvor. Es stammt von der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer und wiegt schwer. Neben einem klaren Wertebekenntnis nach innen können Betriebe auch Haltung nach außen richten. Das ist nicht nur ein Mehrwert im Recruiting. Wie wir als Gesellschaft schmerzlich und viel zu oft in den letzten Monaten erfahren mussten, werden wir in unseren Grundwerten erschüttert. Das schadet uns als Gemeinschaft, aber auch unserer Wettbewerbsfähigkeit. Die deutsche Wirtschaft benötigt Zuwanderung am Arbeitsmarkt, das Gastgewerbe steht von jeher für Offenheit und Vielfalt, lebt Integration und hat weiterhin Wachstumschancen. Der Druck lastet auf der Politik und den Unternehmen, aber jeden Tag kann Menschlichkeit einen Unterschied machen. So entsteht Vertrauen – das nachhaltig bindet, es hilft uns positiv zu bleiben, durchzuhalten und den Mut aufzubringen, der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft die Stirn zu bieten. Aus Überzeugung, für Vielfalt und Wachstum!